… mir fehlt vor allem eine systemische Perspektive auf Familien

Christoph Liel erläutert im Gespräch mit der LAG Väterarbeit Ursachen und Hintergründe von familiärer Gewalt, welche Angebote es für Täter und Täterinnen bereits gibt und was noch getan werden kann und muss.

Dr. Christoph Liel hat einen Master of Arts in Sozialer Arbeit und ist seit 2018 Projektleiter in der Fachgruppe Frühe Hilfen (z.B. der Prävalenz- und Versorgungsstudie Kinder Deutschland – KiD 0-3‘) und wissenschaftlicher Referent für Grundsatzfragen in der Fachgruppe „Familienhilfe und Kinderschutz“ am Deutschen Jugend Institut (DJI) in München.

Christoph, du hast deine Dissertation zum Thema ‚Väter und familiäre Gewalt‘ geschrieben. In der politischen Diskussion wird der Begriff ‚häusliche Gewalt‘ verwendet. Ist damit das Gleiche gemeint?

Nein, der Begriff „häusliche Gewalt“ ist mittlerweile sehr etabliert, auch über verschiedene Bereiche wie der sozialen Arbeit oder der Strafverfolgung und Polizei hinweg, und beschreibt Gewalt zwischen erwachsenen Menschen, die in einer Beziehung leben oder in einer intimen Partnerschaft, und ist dadurch sehr spezifisch auf Partnergewalt zugeschnitten.

Der Begriff „familiäre Gewalt“ ist dagegen ein bisschen breiter und spezifischer, auch leicht antiquierter. War für meine Dissertation war er aber sehr passend, weil er alle Formen von Gewalt, die es in Familien geben kann, beschreibt, also Gewalt zwischen Eltern und auch Gewalt gegenüber Kindern. Meine Dissertation beschreibt genau diese Überschneidungen von letztlich Partnergewalt und Kindesmisshandlung.

In der Vergangenheit ist häufig ‚Väter sind Täter‘ gereimt worden. Was sind die Faktoren, die dazu beitragen, dass Männer zu Tätern und Frauen zu Täterinnen werden?

Also mein Eindruck ist, dass es viele Geschlechtsstereotypen gibt, die im Hintergrund eine Rolle spielen, z.B.  man bei Männern eher davon ausgeht, dass sie durchsetzungsstark sind, damit auch zu Gewalt neigen könnten, während Frauen eher fürsorglicher gesehen werden und solche Dinge. Implizit spielt das sicher auch eine Rolle bei der Thematik.

Wir wissen in der Tat allerdings auch, dass – zumindest bei schweren Formen von Gewalt sowohl in der Partnerschaft als auch gegenüber Kindern – Väter häufiger die Täter sind. Das heißt aber nicht, dass das generell so ist. Bei leichteren Formen – beispielsweise bei körperlicher Disziplinierung von Kindern – wissen wir, dass sogar Mütter gleichermaßen oder teilweise sogar häufiger dafür verantwortlichsind.

Letztlich helfen uns solche Gegenüberstellungen wenig, weil es nicht darum geht aufzurechnen wer gewalttätiger ist. Zu den Ursachen für Gewalt muss man sagen, dass wir nicht viel über die Rolle geschlechtsspezifischer Zuschreibungen wissen. Ihre Bedeutung wird also wahrscheinlich überschätzt.

Es gibt vielmehr Rahmenbedingungen, die für die Entwicklung von Gewaltproblemen eine Rolle spielen. Sogenannte Risikofaktoren, also soziale Problemlagen oder der Hintergrund der Familie bzw. der Eltern. Bei Müttern und Vätern sind solche Risikofaktoren überwiegend ähnlich. Wir wissen aber, dass bei Vätern alles eine Rolle spielt, was dazu führt, dass Väter schlecht in der Lage sind, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Also wie gut sind Väter in der Lage, andere Menschen, also ihre Partnerin oder die Kinder und deren Situation zu verstehen. Bei Müttern gibt es, zumindest bei Kindesmisshandlungen, Anzeichen, dass stärker Stress oder Depressionen eine Rolle spielen können. Solche Merkmale gelten natürlich für beide Geschlechter, sind bei Vätern und Müttern aber möglicherweise unterschiedlich stark bedeutsam.

In einer Familie leben häufig auch Kinder, welche Zusammenhänge zwischen der Partnergewalt und möglichen Kindesmisshandlungen gibt es?

Partnergewalt ist – das wissen wir aus vielen Studien – ein Indikator dafür, dass es viele andere Problemlagen in der Familie gibt, unter anderem eben auch Kindesmisshandlungen. In der Forschung spricht man dann davon, dass es ein Mediator für Kindesmisshandlung ist. Das heißt, sobald Partnergewalt vorliegt, erhöht sich auch die Wahrscheinlichkeit, dass es Gewalt gegenüber Kindern gibt und durch die Konflikte zwischen den Eltern vermittelt wird. Das lässt sich nicht generalisieren. Das gilt auch nicht für alle Ausprägungen der Gewalt. Wir wissen aber, dass es bei Vätern Überschneidungen zwischen verübter Partnergewalt und Kindesmisshandlung gibt.

Wir wissen auch, dass wir diesen ganzen Komplex eigentlich sehr viel systemischer betrachten müssen zwischen Vätern, Müttern und Kindern. Es gibt beispielsweise Phänomene, dass der Vater gegenüber der Mutter gewalttätig ist und die Mutter gegenüber dem Kind gewalttätig wird oder zumindest zu sehr viel stärkerer körperlicher Disziplinierung neigt. Es gibt auch Väter, die insgesamt eine sehr rigide patriarchale Vorstellung in der Familie haben und deswegen generell gewalttätig sind. Aber das ist nicht insgesamt so. Deswegen gibt es eben Überschneidungen zwischen Gewaltformen. Es kommt natürlich auch vor, dass es nur Gewalt gegenüber Kindern oder nur Gewalt in der Partnerschaft der Eltern gibt.

Was können bestehende Beratungsangebote und Täter*innenprogramme dazu beitragen, den Gewaltkreislauf zu unterbrechen und welche Bedarfe siehst du in diesem Feld?

Wir haben, zumindest bei häuslicher Gewalt, mittlerweile wirklich ein wachsendes und zunehmend etabliertes Netz von Beratungsangeboten für Väter. Für gewalttätige Frauen und Müttern ist das Angebot sicher noch ausbaufähig. Das sind Angebote, die erstmal sehr hilfreich sind, auch teilweise unter gerichtlichen Auflagen, um Männer dazu zu bewegen, sich mit Gewalt in der Partnerschaft auseinanderzusetzen.

Diese Angebote versuchen die Zusammenhänge von zwischenelterlicher Gewalt mit Gewalt gegenüber Kindern und auch die Bedeutung von häuslicher Gewalt für Kinder zu thematisieren. Aus meiner Sicht kommen sie bei diesen Themen aber auch an Grenzen.

Uns fehlen noch spezifische Angebote für Väter, also Angebote die Väter unterstützen, sowohl im präventiven Bereich, als auch für Väter, die gewalttätig geworden sind. Diese Angebote müssen meines Erachtens ein bisschen anders aufgebaut sein. Praktizierte Angebote für Väter vermitteln sehr viel Wissen, z.B. über die Entwicklung von Kindern und über altersangemessene Anforderungen auf der einen Seite.

Auf der anderen Seite müssen sie darauf ausgerichtet sein, die Fähigkeiten zur Empathie zu steigern, um sich in Kinder hineinzuversetzen. Sie müssen sehr viel positiver und unterstützender ausgerichtet sein als die Angebote, die wir zur Prävention bei häuslicher Gewalt bisher haben. Ein anderer Punkt, der mir in der Fachdiskussion auch noch fehlt, ist die Stimme der Kinder.

Wir wissen noch viel zu wenig darüber, wie Kinder die Sachlage sehen. Sowohl wenn elterliche Konflikte eskaliert sind, es zu gerichtlichen Verfahren kommt, etwa um Sorge- und Umgangsrecht oder in dem Rahmen von Trennung und Scheidung, bleibt häufig im Dunkeln, was die Kinder möchten und was sie benötigen.

Für Kinder ist jede Form von Gewalt in der Familie ist ein extremes Problem. Da ist es fast schon unerheblich, ob sie direkt geschlagen werden oder ob sie Gewalt zwischen den Eltern miterleben, weil beides ähnlich schädliche Auswirkungen haben kann. Solche Erlebnisse behindern die Fähigkeit, sich selbst zu entwickeln, und zwar auf verschiedensten Ebenen, beispielsweise die eigene Steuerungsfähigkeit und Gefühlsregulation zu entwickeln.

Gewalt gegenüber der Mutter bedeutet für Kinder sehr häufig eine starke Verunsicherung, weil die Mutter – in der frühen Kindheit zumindest – die zumeist erste Bindungsperson ist. Deswegen sind beide Elternteile gleichermaßen wichtig. Was bei Gewalterfahrungen in der Familie passiert ist, dass der Organismus des Kindes letztlich mit dem Erlebten und mit dem interagiert, was es in der Umwelt passiert. Kinder, die sehr viel Gewalt erleben, haben oft ein sehr viel höheres Stresslevel, haben sehr viel größere Schwierigkeiten, sich zu entspannen. So kann letztlich ein Kaskadeneffekt ausgelöst werden bei Kindern, der potentiell sehr schädliche Auswirkungen hat. Deswegen finde ich, dass wir die Kinder in den Fokus nehmen müssen.

Für deine Arbeit hast du ja eine ganze Reihe von Studien durchgearbeitet und Statistiken ausgewertet. Gibt es in diesem Feld lediglich ein ‚Umsetzungsproblem‘ oder würdest du sagen es fehlen auch noch elementare Erkenntnisse und statistische Daten?

Ich finde, dass es in Bezug auf Väter große blinde Flecken gibt, und zwar sowohl in der Praxis wie auch in der Forschung, und zwar im gesamten Kontext des Kinderschutzes. Weil Väter häufig keine oder eine untergeordnete Rolle spielen, obwohl sie sowohl eben als Gefährder für Kinder auftreten können, wie auch als Unterstützer in der familiären Situation. Da benötigen wir mehr Wissen.

Häufig ist es ein Problem, dass Väter nicht die erste Ansprechperson sind, wenn sie nicht die elterliche Sorge haben. Das sind Themen in der Praxis. In der Forschung wissen wir noch wenig, weil sich die entwicklungspsychologische Forschung lange sehr stark auf die sogenannte primäre Dyade, also die Mutter-Kind-Beziehung fokussiert hat.

Was mir noch fehlt ist eine systemische Perspektive, die davon ausgeht, dass Eltern untereinander und mit Kindern interagieren, dass wir ein sehr dynamisches System haben, in dem auch Gleichaltrige und Geschwisterkinder eine Rolle spielen. Da stehen wir noch sehr am Anfang der Forschung.

Vielen Dank für das Gespräch

Die Dissertation von Christoph Liel ‚Väter und familiäre Gewalt‘ kann hier kostenfrei heruntergeladen werden