Nachgefragt – Was ist aus dem Projekt ‚Echt stark – Väter in der Familienbildung‘ geworden

Unsere Fragen hat Dieter Heinrich vom Progressiven Eltern und Erzieher*innen-Verband (PEV) und der LAG Familienbildung der AWO beantwortet. Er hat 2010 in der Steruerungsgruppe des Projekts mitgearbeitet.

1. Welche Motivation lag der Durchführung des Projektes zugrunde?
„Väter in der Familienbildung“ ist auch 2010 gar kein neues Thema gewesen – Väter sind schon immer im pädagogischen Blick der Fachkräfte gewesen. Faktisch wurden Väter durchaus schon direkt, manchmal auch durch die Teilnahme der Mütter an den Angeboten der Familienbildung und einen Transfer zuhause bereits vermittelt erreicht – allerdings mit Luft nach oben. Rund um das Jahr 2010 befanden sich Väter mit einem gestärkten Selbstbewusstsein im Fokus des gesellschaftspolitischen Mainstreams. Die Inanspruchnahme von Elternzeit/ Elterngeld durch junge Väter hatte sich in den Vorjahren vervielfacht – wenn auch auf einem noch niedrigen Niveau von durchschnittlich knapp 4 Monaten. Familienfreundlichkeit wurde als Erfolgs- und Standortfaktor in der Kommunalpolitik und in Betrieben formuliert und Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit aufgelegt. Ute Schäfer verkündete als Familienministerin in NRW das Konzept der Lebensbildung und initiierte ein flächendeckendes Angebot der Familienbildung (Elternstart NRW), das sich gleichermaßen an Mütter wie Väter richtete. Laut Schäfer seien „Starke Väter Halt und Vorbild für Kinder und Jugendliche“.
Die „neuen“ Väter – bzw. die neue Väterlichkeit – suchten nach Ansatzpunkten, neue Rollen und Verantwortlichkeiten in den Familienkonstrukten zu erobern – sowohl in den Haushaltsfamilien wie auch nach Trennung oder Scheidung. Allerdings ließen sich die dominierenden materiellen Rahmenbedingungen nicht von jetzt auf gleich ändern. Diese Traditionsfallen und die gesellschaftlichen Angebote (Verpass‘ nicht die Rolle deines Lebens!) erweckten bei motivierten Vätern auch Skepsis und Widerstand. Väter suchten zum Teil händeringend nach Orientierungen und waren mit ihren auch widersprüchlichen Experimenten gleichzeitig Vorbilder für Gleichgesinnte.
Familienbildung hatte solche Entwicklungen zumindest auf der Erscheinungsebene und in gesellschaftlichen Analysen bereits wahrgenommen und so war das Innovationsprojekt 2010 zum Thema Väter gut platziert.
Väter als wichtige Personen im Familienalltag sichtbar zu machen, zu adressieren und zu beteiligen, war eine Grundmotivation des Projektes. Es sollte sich zeigen, dass nicht nur Väter hier vor neuen Herausforderungen standen, sondern auch die Familienbildung selbst.

2. Was waren die größten Herausforderungen für das Vorhaben?
Eine große Herausforderung bestand in einer möglichst freien und differenzierten fachlichen Sicht auf Väter in ihren unterschiedlichen Lebenslagen. Blicke in Statistiken und Berichte bspw. der einschlägigen Fachministerien auf Landes- und Bundesebene sowie in die Wissenschaft vom Staatsinstitut für Frühpädagogik und Prof. Dr. Dr. Fthenakis über Tunc und Verlinden bis in die Sinus Milieustudien erbrachten eine gute Grundlage, um nicht vorschnell nur partielle Vätertypen einzubeziehen. So sollten neben den trendigen neuen Vätern grundsätzlich auch die familienorientierten und die eigenständigen Väter (Typisierung nach Staatsinstitut für Frühpädagogik) mit in den Blick des Projektes genommen werden bzw. die unterschiedlichen Habitus-Typen der Konsum-Materialisten, die Etablierten, die Väter der bürgerlichen Mitte, die Postmateriellen, die modernen Performer, die Experimentalisten und die Hedonisten (Sinus Differenzierung nach Selbstbildern von „guten Vätern“) Berücksichtigung finden.
Das Projekt hat unter Einbeziehung der Felderfahrungen aus den Einrichtungen der verschiedenen Trägerschienen versucht, Interessenslagen von Vätern auf unterschiedlichen Ebenen (von Anlaufpunkten und Austausch bis zur Gestaltung von Qualitätszeit mit den Kindern) aufzuzeigen und zu systematisieren. Dieses breite Spektrum wurde dann mit den Realitäten und Entwicklungsmöglichkeiten der Einrichtungen der Familienbildung abgeglichen. Durch die Sichtbarmachung und Reflexion bereits bestehender integrativer wie auch selektiver Ansätze von Väter- und Väterbildungsarbeit in der Familienbildung in NRW konnten eine Vielzahl von ‚good practice‘ Beispielen zusammengetragen und in Arbeitsgruppen und Zukunftswerkstätten miteinander weiterentwickelt werden. Das Projekt hat an dieser Stelle auch von Aktivitäten der Männerarbeit auf Landes- und Bundesebene profitiert, die bereits vielfach ihre Schnittstellen zur Familienbildung erkannt und gestaltet haben.
Dabei wurden auch die vorhersehbaren und nach den Erfahrungswerten häufig eintretenden unvorhersehbaren Transitionen in Väter- bzw Familienbiographien in den Blick genommen und als besondere Zeiten mit hohem Unterstützungsbedarf und gleichzeitig hoher Ansprechbarkeit für Unterstützungsleistungen identifiziert.
Und natürlich kamen unter systemischen und pragmatisch alltagsorientierten Gesichtspunkten die sozialen Umweltfaktoren ins Spiel, – insbesondere auch die Frauen und Mütter in den einzelnen Familiensystemen – die einen hohen Einfluss als Gelingens- oder Behinderungsfaktoren für eine selbstbewusste Rollenentwicklung von Vätern darstellen. Hier hat das Projekt für die Familienbildung auch die Einsicht erbracht, dass eine verstärkte Väterarbeit und Väterbildung nicht bloß eine Ergänzung bisheriger Praxis darstellt, sondern sich auf das gesamte Praxiskonstrukt und nahezu alle Angebote auswirkt.

3. Welchen Einfluss haben die Ergebnisse des Innovationsprojektes auf die Familienbildung gehabt?
Der Einfluss des Projektes, an dem viele Einrichtungen aus allen Landesarbeitsgemeinschaften über ihre pädagogischen Mitarbeiter*innen aktiv teilgenommen haben oder die über die Transferveranstaltungen und die Veröffentlichungen erreicht wurden, ist sicherlich sehr vielfältig. Je nach eigenem Entwicklungsstand der Arbeit vor Ort haben das differenzierte Verständnis von Vätern und Väterbildung, der aufgearbeitete wissenschaftliche Background, die über die ‚good practice‘ Beispiele transportierte Ansätze und Angebote, die Einflussnahme auch auf die bestehende Angebotspalette sowie weitere Aspekte dazu beigetragen, dass im Rahmen von Kompetenzanalysen der Familienbildungsstätten die Impulse des Projektes für die weitere Arbeit einbezogen wurden. Neben neuen Angeboten wurde auch die Gesamtsensibilisierung hinsichtlich Themenauswahl und Veranstaltungssetting (Passgenauigkeit von Orten und Zeiten für Väterarbeit bspw. auch an Abenden und Wochenenden/ Veranstaltungen für Väter mit Kindern mit Erlebnischarakter) geschärft, das Ausschreibungswording überprüft, Vätersensibilität in die Kursleiter*innen-Qualifizierung und in die Personalstrategie eingeführt. Ebenso hat die veränderte Außendarstellungen in Einrichtungen auch die Partizipation von Vätern in Gestaltungs- und Planungsprozessen erhöht. Natürlich erfolgen die sichtbaren Ergebnisse solcher Einflüsse nicht von heute auf morgen, sie sind aber auch in heute laufenden Diskussionsprozessen immer wieder erkennbar.

4. Was habt ihr beim Progressiven Eltern- und Erzieher*innen-Verband aufgegriffen und umgesetzt?
„Väter in der Familienbildung“ ist auch 2010 gar kein neues Thema gewesen – Väter sind schon immer im pädagogischen Blick der Fachkräfte gewesen.
Diese Beschreibung trifft für die PEV Familienbildungsstätte auch für ihre gelebte Praxis seit Beginn unserer Aktivitäten vor knapp 50 Jahren voll zu. Wir haben immer schon auf die Vielfalt und Autonomie der Gestaltung von Familienleben und auf die gleichberechtigte bzw. von den biologischen Geschlechtern losgelöste Verantwortungsübernahme von Eltern orientiert. Der Leitsatz: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen“ beinhaltet ein Verständnis von Familie als privatem Raum und als Bestandteil eines sozialen und gesellschaftlichen Beziehungsgeflechts mit gemeinsam getragener Verantwortung für das gedeihliche Aufwachsen und die Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Dabei ist es für den PEV immer wichtig, Kinder nicht als Eigentum von Eltern, sondern als eigenständige soziale Wesen mit individuellen Rechten und Ansprüchen an die gesamte Gesellschaft auf selbstbestimmte Entfaltung und Persönlichkeitsentwicklung zu sehen. Die Sicherheiten des Aufwachsens aktiv gestaltend zu gewährleisten, die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen anzuregen und zu fördern und die Lebensfähigkeit in der aktuellen Gesellschaft zu ermöglichen, ist dabei – zuvörderst aber nicht allein – Aufgabe von „Eltern“ als Verantwortungspersonen – unabhängig von ihrer Anzahl, ihrer gesellschaftlich-biologischen Normierung oder ihrer Beziehung untereinander. Letztlich spielen gemeinwohlorientierte Familienbildung mit privaten Erziehungsverantwortlichen, die Entwicklung von Erziehungspartnerschaften mit Profis der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen sowie die Gestaltung familienfreundlicher Rahmenbedingungen in Gesellschaft und Wirtschaft Hand in Hand. An allen Stellen dürfen dabei Rollenerwartungen und Zielperspektiven für kindliche Entwicklung weder von Erwachsenen unzulässig vorbestimmt, noch dürfen individuelle oder strukturelle Hemmnisse dabei widerstandslos hingenommen werden.
Aus dieser Grundhaltung heraus bezieht PEV Familienbildung seit je her alle erwachsenen Erziehungsverantwortlichen und auch die Kinder selbst in hohem Maße mit in die unterstützenden Bildungsprozesse ein. Aus den jährlich erstellten Weiterbildungsstatistiken ergeben sich für die PEV Familienbildungsstätte entsprechend überdurchschnittliche Beteiligungsanteile auch von Männern/ Vätern an ihren Angeboten.

Kurs-/Seminarteilnehmer

Anteil (%) 2019 (vor Corona)

Anteil (%) 2021
alle Altersstufen 0 – ∞

39,8

45

18 – 25 Jährige

19,6

21,3

26 – 35 Jährige

25

26,4

36 – 50 Jährige

46,5

50,6

18 – 35 Jährige

23,2

24

26 – 50 Jährige

36,3

44,6

Neben den für Recherchen und Haltung wichtigen wissenschaftlichen Erkenntnissen des Projektes haben wir in der Folgezeit nochmal unsere Angebotssettings und unser Ausschreibungswording reflektiert resp. angepasst und die Fragen und Impulse des Projektes in Mitarbeiter*innen- und Referent*innenqualifikationen aufgenommen.
Auch in den wiederkehrenden Diskussionen um „Gendern“ im Rahmen der Bildungsarbeit und der Außendarstellung wird immer wieder deutlich, dass es uns hier nicht allein einseitig um eine Gleichbewertung und Gleichstellung weiblicher Aspekte im Alltag geht, sondern generell um die Reduzierung unzulässiger unterschwelliger Rollenzuweisungen und Diskriminierungen zugunsten einer Förderung von Gleichberechtigung und Autonomie in den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und den individuellen Gestaltungsmöglichkeiten von verantwortlichen Menschen in Familien für sich, in der Partnerschaftsgestaltung und als Vorbilder im Erziehungsprozess.

5. Was sind rückblickend Faktoren, die die nachhaltigste Wirkung in Sachen Väter auf die Familienbildung erzeugt haben?   
Diese Frage kann ehrlicherweise nicht in der gewünscht umfänglichen und bewertenden Form beantwortet werden – hierfür reicht auch mein langjähriger Einblick in die so vielfältige Szene der Familienbildung in NRW und die analytische Reduktion der Angebotspalette auf das Querschnittsthema Väter nicht aus. Aus der generellen Bewertung der Innovationsprojekte aus über 20 Jahren kann ich aber feststellen, dass deren Grundkonstruktion der stetiger Einbeziehung der 6 Landesarbeitsgemeinschaften der Familienbildung als Struktur und über gut vernetzte Einzelpersonen und die Beteiligung vieler pädagogischer Fachkräfte aller Träger und aus allen Landesteilen eine enorme Verbreitungswirkung hat. Hinzu kommt die kompetenzorientierte Einladung an alle, ihre Wissens- und Erfahrungsschätze, aber auch ihre kreativen Ideen offensiv in die laufenden Prozesse einzubringen und damit den Prozess für alle in der Breite wie in der Tiefe zu bereichern. Mit offenen Workshops und Transferveranstaltungen werden dann nochmal Einrichtungen mit weniger Beteiligungsressourcen oder anderen aktuellen Schwerpunkten angesprochen. Parallel werden die Projektthemen immer von den Landesarbeitsgemeinschaften der Familienbildung und vom ‚Fachausschuss FB‘ auf die Tagesordnung des Wirksamkeitsdialogs mit dem Fachministerium und des Kommunikationsprozesses mit der Landespolitik gesetzt.
Für das Väterprojekt war die Einbeziehung der Protagonisten der Männer-/ Väterarbeit in NRW an der Schnittstelle mit der Familienbildung ein großer Zugewinn, da hier sowohl Fachwissen, Handlungskompetenz, aber auch ein landesweites Netzwerk angebunden werden konnte. Die Chancen, dies vor Ort oder regional nachlaufend mit Ansätzen und Experimenten anderer Familienbildungsstätten zu verbinden, geht dabei weit über den fachlichen Zugewinn hinaus.
Natürlich wurde das Projekt auch über die Internetseite „Familienbildung-in-NRW.de“ und über die Broschüre ECHT STARK – VÄTER IN DER FAMILIENBILDUNG „zwischen“-dokumentiert, denn die Steuerungsgruppe der Innovationsprojekte wirft regelmäßig einen Blick zurück auf die durchgeführten Themenschwerpunkte und überprüft deren Aktualisierungsbedarf.
Die stärkste Kraft für die Nachhaltigkeit sind natürlich die Väter (und Mütter) selbst, die sich kontinuierlich als Akteure der Entwicklung von Familienbildung beteiligen – sei es als bedarfsanmeldende Interessierte, als impulsgebende Teilnehmende, als critical friends im Rahmen des Qualitätsmanagements oder im Rahmen der formellen oder informellen Beteiligungsstrukturen.
Für sie alle sind wir auch weiterhin Ansprechpartner und Sprachrohr, wenn es um die Verbesserung der Lebensqualität von Familien in NRW geht